Der Tag der Karlspreisverleihung in Aachen

12. Mai 2024 | Veröffentlicht von , Ein Kommentar

… ein komplizierter Tag

  • ‚Himmelfahrt‘ für Christen‘
  • ‚Beweihräucherung der positiven Rolle des Judentums für Europa – während in Gaza ein israelischer Vernichtungskrieg gegen Palästinenser tobt!
  • ‚Karlspreis: Auch die Stimme Palästinas muss gehört werden!‘
  • 9-Mai: ‚Tag des Sieges über den Faschismus‘, ‚

Die Berichte

  • Über die staatlich geförderte Karlspreis-Veranstaltung haben die Aachener Zeitung, aber auch die überregionalen Medien [1] ausführlich berichtet.
  • Zur Veranstaltung gegen den israelischen Krieg in Gaza wird sicher das Antikriegsbündnis [2] selber noch berichten.
  • Aber als Augenzeugen kann die kraz-Redaktion von der Veranstaltung „Gute Nachbarschaft mit Russland“ vom Hof berichten.

„Gute Nachbarschaft mit Russland“

In diesem Jahr fällt der Tag der Karlspreisverleihung auf den 9.Mai, an dem Russland dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gedenkt – Als am Abend des 8. Mai 1945 die Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet wurde, war in Moskau schon der 9.Mai. Deshalb wollten die Veranstalter ein deutliches Zeichen gegen die z.Zt. in Deutschland sehr virulente Russophobie setzen und klarstellen

Friede in Europa ist nur MIT und nicht GEGEN Russland möglich!

Und genau diese Parole wird auch vom Aachener Bündnis ‚Diplomatie statt Waffen und Sanktionen!‘ unterstützt!

Bei strahlendem Mai-Wetter waren ca. 90 TeilnehmerInnen erschienen. Weitere ZuhörerInnen saßen in in den Cafés oberhalb des ‚Hofs‘ und es gab viel Laufpublikum. Die Atmosphäre war völlig entspannt während die Beiträge doch sehr ernste Inhalte hatten.

Die Reden

Als RednerInnen waren bekannte Personen angereist:
Michael Aggelidis (BASIS) aus Bonn,
Wolfgang Effenberger (Publizist zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik) aus München und
Ulrike Guèrot (Professorin die heftig vom Mainstream bekämpft wird …) kam extra für DIESEN einen Tag aus Berlin.

Logischerweise ging es „am 9.Mai“ rückblickend um den zweiten Weltkrieg, in dem 27 Millionen Sowjetbürger getötet wurden. Letztlich hatte die Rote Armee der UdSSR – die die Hauptlast des Krieges gegen Nazi-Deutschland zu tragen hatte – den Sieg erringen können, der dann am 9. Mai in Moskau auch unterschrieben wurde.
Und dieser Krieg wurde dann in allen Reden auch in Bezug gesetzt zum aktuell laufenden Krieg in der Ukraine.

Es herrschte Einigkeit, dass dieser Krieg von der NATO (bewusst) provoziert wurde, auch wenn die Russische Föderation ihn dann am 22.2.2022 formal begonnen hat.

Hierzu gab es sehr klare Aussagen von Aggelidis. Dann beschrieb er das Abhängigkeitsverhältnis Deutschlands von den USA, vielleicht etwas zu sehr aus der Sicht des deutschen Unternehmertums, aber er blieb eindeutig in der Kennzeichnung der USA als zentralen Kriegstreiber in der Welt.

Das wurde dann durch Wolfgang Effenberger in eine ausführliche historische Darstellung der imperialen westlichen Welt eingebettet. Dabei ging es vom Beginn des 20. Jahrhunderts über den Untergang der UdSSR bis zum aktuellen Krieg in der Ukraine.

Der dritte zentrale Vortrag von Ulrike Guèrot brachte dann einen Europäischen Kontrapunkt zu dem vorherigen, doch sehr deutschen Blickwinkel von Aggelidis. Sie entwarf ein schönes Bild eines zukünftigen Nationalstaats Europa … und mit einem starken Appell, FÜR ein vereintes Europa, das sich mit Russland friedlich zusammentut, statt sich von den USA immer wieder auseinander dividieren zu lassen! Aus Sicht der kraz ein sehr optimistischer Blick – aber Politik ganz ohne Optimismus und Visionen ist auch nicht gut!

Die Reden der drei angereisten Gäste sind hier nachzulesen [3].

Die Kundgebung begann mit sehr langen Vorreden, bis dann die angereisten Gäste endlich zu Worte kamen. Aber die tolle Musik von Katharina und Jochen machte dann alles wieder gut – insbesondere der alte Beatles-Song „Back in the USSR“ !!

Ach ja – zur Berichterstattung der Aachener Zeitung

Erstmals seit einem Jahr gab einige Zeilen über solch eine Aktion in der AZ: siehe dazu das beigefügte Foto vom 10.5.24.

Anmerkungen

[1] bspw. in der ZEIT
[2] link zur AKB-Seite
[3] hier geht’s zur Dokumentation der Reden der drei Gäste:
• Michael Agelidis (siehe im Artikel bei Friedensbündnis Würselen)
• Wolfgang Effenberger (siehe im Artikel bei Friedensbündnis Würselen)
• Ulrike Guerott (Redemanuskript von Prof. Ulrike Guérot, frei gespochen):

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Bekannte und Freunde, liebe Zuschauer & Zuhörer,

auch ich freue mich sehr, heute an diesem besonderen Tag, diesem doppelten Gedenktag, zum einen an die deutsche Kapitulation am 9. Mai 1945 und zum zweiten an die Europäische Erklärung von Robert Schumann vom 9. Mai 1950, zu Ihnen sprechen zu können; zwei Gedenktage, die erstmalig und einmalig mit der feierlichen Verleihung des Karlspreises heute am 9. Mai 2024 zusammenfallen, der wiederum seit 1950 vergeben wird.

Das ist viel Geschichte, es sind viele historisch aufgeladene Daten – Wolfgang Effenberger hat sie Ihnen gerade aufgefächert – die in einer rund 20-minütigen Rede kursorisch zu kommentieren fast unmöglich ist. Zumal wir – nach 70 Jahren Frieden in Europa, Frieden, den wir Europa verdanken, denn Europa, das hieß viele Jahrzehnte #niewiederKrieg – jetzt wieder in einer Zeit leben, von der man schon jetzt sagen kann, dass sie historisch aufgeladen ist, eine Zeit, in der jeder den politischen Umbruch, die Zäsur fühlen kann, und schließlich eine Zeit, in der man den Krieg am Horizont buchstäblich riechen kann, wie ein Gewitter: Deutschland müsse jetzt „kriegstüchtig“ werden, so heißt es, Macron wiederum sagte gegenüber dem Economist, dass er an einem möglichen Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine festhalte. Während die EU sich nicht aufraffen kann, andere Kriege angemessen zu verurteilen und in ihren Erklärungen mit Blick auf Gaza nicht einmal den Begriff „Cease Fire“ auf Papier bekommt.

Ich möchte vorschieben, dass meine Einladung zum einen sehr spontan erfolgte, erst letzten Sonntag, so dass ich Ihnen keine historisch ausgefeilte Rede wie Wolfgang bieten kann, dafür war die Zeit zu knapp.

Und dass es zum Anderen für mich etwas ungewöhnlich ist, hier draußen, sozusagen vor dem Aachener Rathaus zu sprechen, denn mehrere Male war ich Gast bei der Verleihung des Karlspreises, zum Beispiel 2017, als der Preisträger der britische Historiker – und Freund von mir – Timothy Gaton Ash aus Oxford war; oder 2018, als der Karlspreis an den damals frisch gewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron vergeben wurde, der kurz nach Amtsantritt 2017 mehrere wichtige europäischen Reden an der Sorbonne oder in Athen gehalten hat. Darauf werde ich zurückkommen.

Deswegen möchte ich mich eher auf ein paar persönliche Erinnerungen beschränken, Erinnerungen an das Europa in den 1980er und 1990er Jahren, an meine Zeit bei Jacques Delors, den großen Kommissionspräsidenten von 1985 bis 1995, an die damalige Aufbruchstimmung in eine Politische Union, an die Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses von Michael Gorbatchov, an die Idee einer europäischen Sicherheitsarchitektur mit Russland. Kurz: ich möchte erinnern an die Ambitionen, die Absichten, und die Träume, die man damals von einem einigen, friedlichen und prosperierenden Europa hatte. Ich möchte kurz skizzieren, welche Debatten darüber geführt wurden, in knappen Sätzen nachzeichnen, wo die EU m.E. falsch abgebogen ist, wann die EU die Sympathien und das Wohlwollen der europäischen Bürger verloren, ihre Ziele verfehlt, ihr demokratisches Antlitz verspielt hat, und heute offenbar dabei ist, ihr Erbe und ihren Auftrag – nämlich ein Friedensprojekt zu sein – in den Mülleimer der Geschichte zu schreddern und zwar vor unseren Augen, in unserer Zeit!

In dem die EU jenen europäischen Wesenskern schreddert – Frieden – den der französische Autor Laurent Gaudet in seinem großartigen Epos „L’Europe – un banquet des Peuples“, so beschreibt: „Ce que nous partageons, c’est que nous étions tous burreau et victime.“ Was wir in Europa teilen, ist, dass wir alle zugleich Opfer und Schlächter waren.“ Die europäische Einigung sollte dazu führen, dass wir daraus Lehren ziehen, durch eine gemeinsame, friedenssichernde föderale Ordnung. Jetzt werden die Staaten der EU seit geraumer Zeit immer mehr in ein Kriegsgeschehen hineingezogen, oder bereiten sich gar aktiv drauf vor: man könne ja nicht anders. Der imperialistische Putin allein sei schuld, eine Mitverantwortung des Westens wird kategorisch ausgeschlossen, obgleich viele Argumente auf dem Tisch liegen, dass es eine solche gibt. Wir werden die Schulfrage den Historikern überlassen und hier nicht diskutieren, denn längst ist die Frage nicht mehr, wer zuerst angefangen hat. Sondern wer jetzt zuerst aufhört!

Auch wenn ich derzeit nicht mehr in Bonn bin, wer weiß – was das LAG Köln entscheidet – möchte ich Bertha von Suthner zitieren, deren Namen einer der großen Plätze in Bonn schmückt und die 1916 den Friedensnobelpreis bekommen hat für „Die Waffen nieder“. Das ist das, was jede Mutter sagt, wenn zwei Kinder sich streiten: „Es ist mir egal, wer angefangen hat. Ihr hört jetzt beide sofort auf.“ Denn am Anfang ging es noch um gelb-blaue Fahnen, Solidarität und Helme. Dann um Panzer, dann um Luftabwehrraketen. Inzwischen liegt die atomare Bedrohung in der Latenz, mit der Putin droht, nachdem im September 2022 die damalige britische Außenministerin schon bereit war, to push the nuclear button.

Um das zu betonen: unbestritten geht es um einen „russischen Angriffskrieg“. Ob er „völkerrechtswidrig“ ist, dazu gibt es bereits erste Diskussionen unter Juristen. Aber an der Eskalationsspirale drehen zwei, und nicht nur einer! Wie General Kujat, Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr sagt: seit den am Unwillen des Westens (!) gescheiterten Friedenverhandlungen vom April 2022 ist der Westen mitverantwortlich für den Krieg. Und ich habe in den letzten Monaten keine EU gesehen, die – würdig des Friedensnobelpreises, der ihr 2012 verliehen wurde – alles, aber auch alles getan hätte, Frieden und Diplomatie zu forcieren.

Im Gegenteil. Die einseitige und hohe finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine von inzwischen insg. rund 107 Mrd Dollar, die auf dem Dezember Gipfel 2023 der EU beschlossen wurde, das unhaltbare (jeder weiß es!) Versprechen einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine und in der Tat jene verhängnisvolle Verkettung des deutschen Schicksals mit dem ukrainischen durch die vertragliche Bindung vom 16. Februar 2024, die Wolfang schon zitiert hat („Deutschland ist unerschütterlich in seiner Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb der Grenzen, die seit 1991 international anerkannt sind“[1]) und die zehn Jahre Gültigkeit hat, also bis 2034 (!!!), sind wohl Ausdruck dafür, dass die EU, dass die europäischen Staaten, mit einer mir unverständlichen Lust auf Selbstschädigung offenbar lieber auf Jahre den Krieg und den militärischen Konflikt riskieren, auf den sie sich sichtlich vorbereiten, anstatt den Frieden zu gestalten. Weil man nicht eingestehen kann, dass man sich verkalkuliert hat, weil man zu lange erzählt hat, dass Putin den Krieg nicht gewinnen darf, ohne zu spezifizieren, was das denn eigentlich heißen soll? Und das, obwohl deutsche oder auch amerikanische Generäle und Experten wiederholt zum Ausdruck bringen, dass dieser Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist; obgleich sich die Berichte über den Zusammenbruch der ukrainischen Front häufen und die ukrainischen Männer zuhauf desertieren.

War das nicht genau diese europäische Kriegserfahrung, die der Franzose Boris Vian in seinem wunderbaren Lied „Le Deserteur“ , einem Kleinod europäischer Chanson-Kunst, zum Ausdruck gebracht hatte: Wenn Sie Soldaten möchten, Herr Präsident, dann schicken Sie ihre eigenen Söhne….. heißt es in dem Lied. Als es zum erstem Mal 1954 im französischen Radio gespielt wurde, wurde es sofort zensiert und dann bis Ende des Algerienkrieges 1962 verboten. Kriegszeiten sind Zensurzeiten – auf beiden Seiten der Front!!! Über den Frieden zu sprechen ist, ihn zu fordern ist auch heute schon wieder hart an der Grenze der Strafbarkeit in Deutschland und Europa.

Wie kann es sein, dass wir 2024 wieder da sind, wo wir 1954, vor siebzig Jahren schon einmal waren, und sich z.B. die polnische Regierung damit rühmt, ukrainische Männer in Polen aufzuspüren und zurück an die Front zu schicken, u.a. zur Verteidigung einer ukrainischen nationalen Souveränität und territorialen Unversehrtheit, die indes ein Kunstprodukt der jüngeren Geschichte ist, wie alle Grenzen in Europa entweder ein Kunstprodukt oder das Ergebnis blutiger Kämpfe aus dem letzten Jahrhundert sind: ob das Elsass Französisch oder Schlesien Deutsch oder Tirol Italienisch ist: darüber wurden die Schlachten im 20. Jahrhundert geführt, bevor durch eine föderale Ordnung in Europa die nationalen Grenzen durchlässig wurden und es nicht mehr so wichtig war, zu welchem Land eine bestimmte Region gehört.

Genau das war nach dem Mauerfall mit der Charta von Paris von 1990 auch die Idee für Osteuropa: eine föderale Ordnung mit Russland, eine europäische Sicherheitsarchitektur, in der die nationale Zuordnung einzelner Regionen nicht mehr so wichtig ist, weil die Grenzen des europäischen Kontinentes durchlässig sind und die europäischen Völker in Frieden unter dem Dach einer kooperativen, föderalen, europäischen Ordnung leben, anstatt nationale Grenzen und Territorien durch Krieg zu verteidigen und den Schutz voreinander zum einzigen Ziel zu erheben, wo dich der Friede unteilbar ist.

Die Frage nämlich, ob z.B. die Krim russisch oder ukrainisch ist, ist, ist genauso schwer zu beantworten wie die Frage ob das Elsass Deutsch oder Französisch ist. Alle europäischen Staaten sind im Kern multiethnisch, multireligiös und multinational, alle haben unterschiedliche Regionen. Wenn sie Elsässer fragen, ist das Elsass, jenseits seiner staatlichen Zugehörigkeit, einfach elsässisch. Und während im Donbass das Russische gerade aus den Schulbüchern entfernt wird, wird das elsässische in den dortigen Schulen neben dem französischen gerade wieder eingeführt. Wozu wurde siebzig Jahre erzählt, dass Europa die Überwindung der Nationalstaaten sei? Es steht noch in jedem Schulbuch über die EU….. wollen wir diese Schulbücher jetzt umschreiben?

Ausgerechnet Wolodymir Selenski hat letztes Jahr den Karlspreis bekommen hat, eine Entscheidung, die mich, ehrlich gesagt, verdutzt hat, weil ich keine „herausragenden Bemühungen im Bereich der europäischen Einigung“ in seinem Lebenswerk erkennen konnte, die doch das Aachener Preiskomitee verlangt, außer dass sein Land das Motiv dafür bereitstellt, die EU ausgerechnet in einem Krieg zu einen. Manchmal glaube ich, ganz Europa ist derzeit in einem Spielfilm, dessen Titel in Memoriam von James Dean heißt: Denn sie wissen nicht, was sie tun…. Für mich ist es derzeit neben den sinnlosen Toten an der Front das Schlimmste, dass Europa nicht in den Spiegel schauen kann; und nicht in die Texte, die seine Gründungsdokumente sind, so sehr müsste es sich schämen.

Eine in den Osten ausgedehnte, regionale, föderale Ordnung wäre die europäische Antwort auf das Kriegsgeschehen. Neben dem Verrat am Frieden ist es die vermeintliche Verteidigung einer ahistorischen ‚nationalen Einheit‘ der Ukraine, die diesen Krieg so unerträglich uneuropäisch macht: während die EU behauptet, ihre Werte zu verteidigen, in dem sie diesen Krieg im Namen der nationalen Einheit der Ukraine führt, versuchen Schottland, Katalonien oder Korsika gerade, nationale Einheiten zu durchbrechen. Wollen wir mit der EU zurück ins 20. Jahrhundert?

„Europa: Die Zukunft der Geschichte?“, so hieß eine große Ausstellung über Europa in Zürich schon 2015. Wir müssen also kurz zurück in die Geschichte, um die heutigen Fehlstellungen der EU zu erkennen, bevor ich zum Abschluss ein paar Ideen vorstellen möchte, damit Europa in eine andere europäische Zukunft findet, als eine Rückkehr in seine blutige Geschichte.                   

Inzwischen – „Verschwörungstheorien“ sind ja derzeit in Mode – sind viele, im Übrigen gute historische Bücher im Umlauf, die das Projekt der europäischen Einigung seit 1950, jener Erklärung von Robert Schuman, an die wir heute am 9. Mai erinnern, nicht mehr als Friedensprojekt beschreiben, das nach den Schrecken des 30-jährigen europäischen Krieges (Philipp Blom) von 1914 bis 1945, inklusive Holocaust beschämt auf der Taufe gehoben wurde, sondern die es von Anfang an als amerikanisches Projekt beschreiben, gestartet und gestaltet u.a. mit dem Marshall Plan. Kurz: die USA hätten die europäische Idee stets in ihrem Sinn gesteuert. Das ist mir zu flach, wiewohl es sicher eine Seite der Medaille ist. Vielmehr erscheint die Geschichte der EU als ein umschlungener Pfad, oszillierend zwischen europäischen Ambitionen und auswärtiger Einflussnahme, USA oder CIA hin oder her.

Denn es gab – und gibt vielleicht noch? – eine andere Idee von Europa, eines Europas, geboren aus dem Geist des Widerstandes, wie es in dem gleichnamigen Buch von Frank Nieß[2] heißt, nämlich genau jene Idee eines friedlichen, föderalen, regionalen, sozialen und vor allem bürgerbasierten Europas jenseits nationalstaatlicher Zuordnungen, dessen Protagonist der ersten Stunde der legendäre italienische anti-Faschist Altiero Spinelli gewesen ist, der wiederum bis in die 1980er Jahre Mitglied des Europäischen Parlamentes war, und Co-Autor des europäischen Manifestes von Ventone 1941. Darin heißt es: „Die erste Aufgabe, die angepackt werden muss, und ohne deren Lösung jeglicher Fortschritt auf dem Papier bleibt, ist die endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten aufteilen.“ [3] Wenig später heißt es im sog. Hertensteiner Programm von 1946 in Punkt 5: „Die Europäische Union steht allen Völkern europäischer Wesensart, die ihre Grundsätze anerkenne, offen.“  Ferner heißt es dort unter Punkt 8: „Die Europäische Union richtet sich gegen niemanden und verzichtet auf jede Machtpolitik, lehnt es aber auch ab, Werkzeug irgendeiner fremden Macht zu sein.“ Wohlgemerkt: in den Texten, die damals den europäischen Geist atmeten, ging es also um europäische Völker, nicht um Staaten! Und es ging um die Entsagung von einem Machtanspruch. Das geflügelte Wort von Jean Monnet lautete: „L’Europe, nous ne coalisons pas des états, mais nous unissont des hommes.“  Europa, das heißt nicht, Staaten zu integrieren, sondern Menschen zu einen.

Die EU aber hat, und darauf wird als einen ihrer zentralen Webfehler zurückzukommen sein, stets versucht, Staaten zu integrieren – durch einen Binnenmarkt oder eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Verteidigungspolitik oder eine Klimapolitik – und nicht wirklich versucht, Europa als Bürgerprojekt zu begreifen, als Projekt einer gemeinsamen europäischen Demokratie und nicht Integration. Deswegen konnte die EU bis heute nicht zu einer eigenständigen Souveränität gelangen und leidet an einem Demokratiedefizit, das wiederum der Nährboden für die heutigen populistischen Parteien ist, die zwar die EU angreifen, die aber nicht unbedingt gegen ein geeintes Europa sind. In dieser Differenz zwischen EU und Europa, zwischen Bürgern und Staaten, zwischen europäischer Integration und europäischer Demokratie sind vielleicht die Lösungen zu suchen, um Europa im 21. Jahrhundert anders zu gestalten. Denn wenn die EU heute vielen als „usurpiert“ erscheint, von wem auch immer – den USA oder Konzernen – dann konnte das nur passieren, weil die demokratische Bindung der Bürger zum europäischen Projekt nie richtig vorhanden war.

Auch Frank Nieß beschreibt schon akribisch für die 1940er Jahre, wie das europäische Projekt und die vielfältigen europäischen Bewegungen aller Ortens in der Nachkriegszeit, vor allem in den Jahren 1945 bis 1949, also vor der Erklärung von Robert Schuman, zum Spielball von Einflussnahmen wurde: Einflussnahmen der USA ebenso wie der Briten, von Stalin genauso wie von ökonomischen Akteuren. Um Europa und das, was es sein sollte, gab es also stets Gezerre, nach dem II. Weltkrieg und bis in die jüngere und jüngste Geschichte. Quo vadis, Europa? Welches Europa? Europe at the crossroads? ist eine Zillionen-fach gestellte Frage.  

Wie ein roter Faden zieht sich in Europa die Frage nach Bundestaat oder Staatenbund, nach Föderation oder Union, nach nationaler oder europäischer Souveränität – also letztlich die Frage: wer entscheidet in Europa, wer ist der Souverän? – durch die europäische Geschichte, auch durch die über 70-jährige Geschichte der EU. Und damit vor allem die Frage: entscheiden die Europäer selber über ihr Schicksal, ihre Werte und ihre geostrategischen und ökonomischen Interessen und wenn ja, wie machen sie das zusammen? Oder entscheiden „auswärtige Mächte“?

Die europäischen Bibliotheken sind randvoll mit juristischen Analysen über die Versuche einer europäischen Verfassung, über die europäischen Verträge von Rom bis Maastricht, über Reformbemühungen und Regierungskonferenzen von Amsterdam über Nizza und von Laeken bis Lissabon. Nach über 70 Jahren Integration ist die Bilanz der EU ernüchternd. Wir, die Europäer, die europäischen Bürger, haben es nicht geschafft, im demokratischen Sinn Herr des europäischen Projektes zu werden, und die europäische Einigung so zu bauen, so zu vollenden, wie es damals in den Texten des Nachkriegseuropas angedacht oder auch erträumt war. Und zwar unabhängig davon, was die USA vielleicht gewollt oder gesteuert haben. Denn die unbestrittenen Interferenzen der USA sind nur die eine Seite. Die andere ist, bis heute, was wir Europäer aus und auf dem europäischen Kontinent machen wollen?

Wenn wir eine andere Zukunft in Europa wollen als die Geschichte, müssen wir das Nachdenken über Europa im 21. Jahrhundert mit dieser Frage beginnen, genauer: fortsetzen. Il faut cultiver son jardin, man muss seinen Garten hegen, pflegte Voltaire zu sagen. Wir haben den europäischen Garten nicht gehegt! Wir haben ihn verwildern lassen.

Das eigentliche Problem für mich ist, dass wir jedes öffentliche Nachdenken darüber, was wir mit und auf diesem Kontinent zusammen machen wollen, jede konstruktive institutionelle Debatte über die EU, ihre Governance-Strukturen etc. seit Jahren eingestellt haben. Es geht nicht mehr darum, dass wir Änderungen am europäischen Gefüge nicht mehr umsetzen oder implementieren können, sondern dass wir praktisch keine institutionellen Änderungswünsche an der EU mehr denken, artikulieren und politisch debattieren können. Die großen Debatten aus der Ära Delors über les grands projets européen, die großen europäischen Projekte, sie sind dahin. Europa ist zu einer einzigen großen Krisenerzählung geworden, Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Krieg. Wer heute 20 Jahre alt ist, hat seit Jahren in der europäischen Medienlandschaft kein einziges positives Bild von Europa geliefert bekommen, obgleich das Leben jedes europäischen Bürgers zu großen Teilen durch die EU bestimmt und reguliert ist.

Muss man sich dann wundern, dass die Afd, wie andere populistische Parteien, den Dexit, Öxit, Italexit, Polexit etc., fordern und die EU als unreformierbar bezeichnen? Ich, die ich in den letzten beiden Jahrzehnten auf hunderten solcher Reformkonferenzen beigewohnt habe würde dem beipflichten. Wir sind denkfaul geworden mit Blick auf die Ausgestaltung einer europäischen Demokratie oder einer Verfassung; denkfaul mit Blick auf unseren kulturellen Beitrag in Zeiten des Transhumanismus, in denen die europäische Philosophie vielleicht mehr denn je gebraucht wird, und ebenso denkfaul mit Blick auf Europas Rolle in der Welt, in der zukünftigen, multipolaren Welt, die sich am Horizont abzeichnet und in der Europa keine Rolle mehr spielen wird, wenn nicht bald eine neue, zugkräftige Idee von sich selbst entwickelt.

Noch im Oktober 2023, es ist erst wenige Monate her, als einige Abgeordnete im Europäischen Parlament einen neuen europäischen Konvent planten, der 2025, nach den Europawahlen beginnen sollte, der Skizzen, Pläne und Entwürfe für ein Europa 2030/ 2035 machen sollte, um die bevorstehende Erweiterung der EU um die Balkanstaaten, die Ukraine oder die Türkei mit institutionellen Reformschritten zu begleiten, wurde dieser Vorstoß torpediert. In diesen Konvent sollten auch die 49 Bürgervorschläge für Europa, die im Rahmen einer einjährigen Bürgerbefragung der EU zwischen 2021 und 2022 entwickelt worden sind, eingebracht werden. Doch der Konvent wurde kassiert. Kein Zukunftsentwurf, keine Beratungen, kein Nachdenken. Niemand bedauert es, niemanden interessiert es, schlimmer noch: die wenigsten wussten davon. Wie aber soll Europa – und das sollte es ja ursprünglich – ein europäisches Gemeinwesen werden, wenn sich niemand dafür interessiert? Wenn es aber, und das ist mein Punkt, kein gelebtes, erlebtes, belebtes demokratisches Gemeinwesen wird, dann wird die EU (oder ist die schon!) zum Monster: Nous avons crée un monstre, sagte der berühmte französische Ökonom Thomas Piketty schon während der Bankenkrise. Aber niemanden scheint es zu stören, in einem Monster zu leben, ein Apparatus, der jetzt z.B. durch einen European Digital Service Act die Meinungsfreiheit in Europa weiter einschränkt, eine EU, die ihre Zugriffsrechte immer weiter – ich habe das schon 2016 geschrieben – in die europäischen Demokratien fräst, ohne dafür legitimiert zu sein.

Kann man sich in einem Zustand, in der die EU eine abstrakte, von politischen Prozessen entkernte, supranationale Hülle für Governance Strukturen geworden ist, anstatt eine echte bürgernahe, europäische Demokratie, darüber beschweren, wenn andere Mächte die „Steuerung“ in Europa übernehmen, und hier ihre Interessen ausleben?

Wenn „die USA“ ihre Stellvertreterkriege – in denen es, die Spatzen pfeifen es von den Dächern, neben der kolportierten Absicht, „Russland zu zerschlagen“, im Wesentlichen um wirtschaftliche Interessen, vor allem um gute Böden in der Ukraine geht – in die Mitte Europas pflanzen? Wenn „die Chinesen“ von Belgrad über Budapest mit ihren Infrastrukturprojekten bis ins Herz Europa vorstoßen? Wenn „die Russen“ Europa jetzt in militärische Panik versetzen?

Wessen Schuld ist es, wenn Europa seine Selbstschädigung betreibt, sich ökonomisch und sozial ausnehmen lässt, sich auseinanderdividieren lässt, kein Rückgrat hat, sich nicht emanzipiert, nicht souverän ist, sich nicht wehren kann oder will gegen Missbrauch, kurz: wenn Europa ein suizidales Verhalten an den Tag legt, ja, wenn Europa Selbstmord begeht?

Was – fast würde ich sagen wollen: zum Teufel – ist in uns Europäer gefahren, dass wir heute 2024, am 9. Mai, an dem wir drei historische Daten feiern, so nackt dastehen? Genauer: dass Europa gar nicht mehr dasteht, sondern schon zerfallen ist und in seinem Wesenskern, zerbröselt ist, ohne das wir es zu bemerken scheinen, zu thematisieren wagen, zu trauern bereit sind…..

Denn, und hier erlauben Sie mir bitte, etwas persönlich zu werden: es gab Chancen, Gelegenheiten, Zeitfenster. Es gab Bemühungen, große Politiker, Entwürfe.

1993 bin ich, 30-jährig, auf Max Kohnstamm getroffen, den ehemaligen Berater von Jean Monnet. Auf einer Autofahrt erzählte er mir, wie er in einer Art Shuttle Diplomatie in den 1950er und 1960er Jahren von Stalin zu Wehner, von De Gaulle zu Adenauer oder Andreotti gejettet ist, um die institutionelle Einigung Europas zu forcieren, so dass mir fast schwindelig wurde. Und ob Jean Monnet jetzt Agent der CIA oder nicht war, ist relativ egal: die Absichten der einen sind die Chancen der anderen. Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing haben den Ecu als Vorläufer des Euro als Projekt währungspolitischer Unabhängigkeit von den USA konzipiert; Helmut Kohl und Francois Mitterrand haben, mit Delors zusammen, die einheitliche europäische Akte, dann den Binnenmarkt, dann den Euro gemacht und die politische Union auf die Schiene gebracht. Das Schäuble-Lamers Papier von 1994, das ist heute genau 30 Jahre her, war ein kühner, kluger Entwurf für ein demokratisch geeintes Europa. Es ging um Mehrheitsentscheidungen, die Durchbrechung der nationalstaatlichen Repräsentanz, die Aufwertung des Europäischen Parlamentes. Der europäische Bürgerbegriff wurde begründet, es sollte um mehr gehen als um ein „market citizenship“, eine Marktbürgerschaft. „In einen Binnenmerkt kann man sich nicht verlieben“, hat Jacques Delors immer gesagt, „wir müssen Europa eine Seele geben“, und gemeint war eine politische Seele. Der gleiche Delors der immer wieder und wieder versucht hat, neben dem Euro eine Sozialunion zu etablieren und der 1992 auch den Karlspreis bekommen hat: zurecht! Aus meinem Erleben kann ich diesen Personen nicht absprechen, dass sie sich ehrlich um ein demokratisches, bürgernahes Europa bemüht haben. Aber sie haben es nicht geschafft.

Ich wünschte, ich könnte Geist und Debatten über Europa der 1990er Jahre noch einmal einfangen, für die heutige Jungend U-30: es gab Aufbruchstimmung, der europäische Pass, die bordeauxrote Hülle wurde geschaffen, das europäische Hochschulinstitut gegründet, Beethovens 9. Sinfonie zur europäischen Hymne: „Alle Menschen werden Brüder….“  Es hat dem Kontinent gutgetan, es war eine fiebrige Stimmung, die Vorstellung, nach dem Mauerfall könnte ganz Europa einig und frei werden, war ansteckend, Populismus war noch ein Fremdwort.

Nicht, dass die europäischen Projekte – Binnemarkt, Euro, Ost-Erweiterung – ein Ponyritt gewesen wären. Nein, es gab zähe, strittige Debatten. Aber Europa hatte eine Vorstellung von sich selbst, ein Ziel, vor allem das Ziel, eine politische Gemeinschaft zu werden. Und darin war es damals weiter als heute! Im Vorfeld der europäischen Verfassung von 2003 wurden Bücher geschrieben über La question de l’état européen[4], die Frage eines europäischen Staates. Habermas und Derrida füllten die Feuilletons mit Debatten über eine europäische Verfassung. Etienne Balibar stellte die Frage: Sommes nous des Citoyens Européens? Sind wir europäische Bürger? Oder sind wir als europäische Bürger noch in „nationalen Containern“? Joschka Fischer sprach in seiner legendären Humboldtrede vom Mai 2000 über die Europäische Avantgarde, sogar die Briten erwogen unter Tony Blair eine Teilnahme am Euro. Das ist rund zwanzig Jahre her und hätte ich es nicht selbst erlebt, ich würde es heute selbst nicht mehr glauben.

In unserem Buch „Endspiel Europa“ beschreiben Hauke Ritz[5] und ich detailliert, wie ab dem Moment, wo Europa eigentlich kurz vor seiner Apotheose, seiner Vollendung stand – Erweiterung, Euro, Verfassung – also um die Jahrtausendwende, das europäische Projekt ab da eigentlich nur noch den Abhang der Geschichte herunterrutscht ist.

In der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts reihen sich Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Pandemie und jetzt der Krieg in und um die Ukraine aneinander. Europa wurde zu einer einzigen Krisenerzählung. Der amerikanische Einfluss auf diese Geschehnisse – Bankenkrise oder Maidan – ist nicht zu negieren. Aber immer ist die Geschichte dialektisch, immer gibt es die Gegenbewegung, die Europa aus dem Geist des Widerstandes denkt und nicht zum Spielball äußerer Interessen werden lassen möchte.

Nach der Bankenkrise formte sich vor allem unter jungen Leuten der Diskurs über das andere Europa, une autre Europe. Aber noch gibt es öffentliche oder akademische Debatte und relevante Gruppen, die Vorschläge unterbreiten, z.B. die Reformvorschläge der sog. „Glienicker Gruppe“ von 2013 oder diejenigen der „Groupe Eiffel“ von 2014. Der Begriff des europäischen Bürgers gewinnt an Fahrt, die ersten transnationalen Parteien – DiEM oder VOLT – formieren sich, der Pulse of Europe ist auf den Straßen. Es gibt den ersten bürgerbasierten Widerstand gegen das, was Bruno Amable in seinem Buch „Le Blog Bourgeois“[6] nennt, also im Zuge der Bankenkrise vor allem jugendlichen Widerstand gegen das neoliberale Europa und die Governance-Strukturen des Euro. Noch Jean Claude Juncker, Karlspreisträger von 2006, legt, nachdem er 2014 EU-Kommissionspräsident wurde, 2016 ein Weißbuch zur Reform der EU vor. Auch dieses Weißbuch verschwindet in der Schublade der Geschichte.

Auch die Rolle Deutschlands, genauer: die von Angela Merkel, in diesen Jahren die Demokratisierung der europäischen Strukturen zu verhindern, werden die Historiker auch Doch was ich erzählen möchte: wir hatten unsere Chance, es gab in Europa Akteure, die über die europäische Zukunft nachgedacht haben, die ein politisch geeintes Europa wollten. Auch Emmanuel Macron, der 2018 noch davon sprach, dass die NATO „Hirntod“ ist, und der heute Bodentruppen in die Ukraine schicken möchte (dazu mehren sich Berichte, dass die franz. Ehrenlegion schon in der Ukraine ist, was eine Verletzung europäischer Vertragsgrundlagen wäre, die im Rahmen des Kriegsgeschehens ein Dammbruch für eine direkte europäische Beteiligung sein könnte), hat nach Amtsantritt zunächst mehrere gute europäische Reden vorgelegt. 2018 war ich dabei, dort in jenem Rathaus, in dem heute der Karlspreis an den europäischen Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt verliehen wird – den Beitrag des Judentums zum kulturellen Erbe Europas möchte ich hier ausdrücklich hervorheben und Rabbi Goldschmidt zum Karlspreis gratulieren – wo der Bürgermeister von Aachen, Marcel Philipp, Emmanuel Macron in den Karlspreis einführte, mit den Worten – aus dem Kopf zitiert – er sei sicher, dass Macron endlich eine deutsche Antwort auf seine europäischen Vorschläge bekommen würde: Démocracie, unité, souveraineté en Europe: Demokratie, Einigkeit und Souveränität für Europa. Emmanuel Macron war der erste Staatschef, der von europäischer Demokratie für die europäischen Bürger, nicht mehr von Integration gesprochen hat. Und von europäischer Souveränität statt nationaler Souveränität. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Laudatio. Die Nervosität des ganzen Saales war zum Greifen, bevor Angela Merkel sie einer belanglosen Rede aus dem Saal entweichen ließ wie Luft aus einem Luftballon, den man einfach loslässt, und der dann wild zappelt, bevor er schlaff auf den Boden plumpst. Bürgermeister Philipp war die Enttäuschung anzusehen. Deutschland hatte nicht auf Frankreich geantwortet. Das deutsch-französische Tandem war gestorben, der letzte Versuch, ein politisches Europa zu Wege zu bringen, abgewürgt.

In der Retrospektive war die zweite Dekade in diesem Jahrhundert wohl das entscheidende Tauziehen zwischen den Ideen eines bürgerbasierten, anderen Europas und dem Emporkommen des europäischen Populismus: Europa erlebte die PiS in Polen, Orban in Ungarn, den Brexit. Das Gespenst des europäischen Populismus ging um, ein Konflikt, ein Diskurs indes, der mit nationalstaatlichen Konturen nichts mehr zu tun hat, sondern auf eine Art europäischen Bürgerkrieg verweist, der zwischen Stadt und Land, reich und arm, jung und alt, Ost und West usw. verläuft.

Beide Gruppen, die Verfechter einer europäischen Demokratie und die europäischen Populisten, teilen, dass sie gegen die EU sind, aber für Europa. Also für ein Europa jenseits der EU! Die einen strebten die Vollendung der europäischen Demokratie an; die anderen die Rückkehr zu nationaler Souveränität, solange es keine europäische Demokratie und keine europäische Souveränität gibt. Die Europawahlen in genau einem Monat werden zeigen, dass letztere wohl vorerst gewinnen werden. Aber vielleicht – oder hoffentlich – nur vorerst?

Denn die Frage der europäischen Souveränität ist immer noch der große weiße Elefant auf dem Tisch der EU. Wenn wir die europäische Souveränitätsfrage lösen wollten, müssten wir verstehen, dass Souveränität nach außen – also europäische Handlungsfähigkeit – und Souveränität nach innen – also die Legitimität eines politischen Systems – mit einander verwoben sind. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Das habe ich im Januar 2022 noch für einen bekannten Think Tank in Brüssel ausargumentiert; das Papier ist inzwischen von der Webseite verschwunden.

Und, zweitens, müssten wir verstehen, dass die europäische Souveränität weder bei der EU liegt, noch bei den Nationalstaaten, sondern das Souveränität immer vom Volke ausgeht, genauer von den Bürgern, in diesem Fall den europäischen Bürgern.

Sie alleine wären die Größe, die eine europäische Demokratie formen, die sich auf gleiches Recht jenseits von Herkunft und Identität einigen könnten, die den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger fordern könnten, um endlich aus den ‚nationalen Rechts-Containern“ herauszutreten, ganz so, wie Altiero Spinelli sich das 1941 vorstellte. Würden sie das tun, würden die europäischen Bürger genau über jene Brücke gehen, die ich versucht habe, zu umreißen, jene Brücke von europäischer Integration, die die Staaten gestalten, zu europäischer Demokratie, und auf dem Grundsatz gleichen Rechtes eine Republik begründen. Nicht alles wäre besser, aber Europa einen wichtigen Schritt gegangen. Hoffen wir also, dass sich Europa, wenn es aus dem bevorstehenden Krieg 2034 vielleicht wieder hervor kommt und sich wieder besinnt, Europa sein zu wollen, die alten Texte noch einmal liest, versteht, welche falschen Abbiegungen die EU im 20. Jahrhundert genommen hat, und als regionale, föderale Bürgerrepublik noch einmal sein Glück im 21. Jahrhundert versucht.


[1]www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/2260264/8efa1868839ede7609437b341d75c3c5/2024-02-16-ukraine-sicherheitsvereinbarung-deu-data.pdf?download=1
[2] Frank Nieß, Die europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands, edition Suhrkamp, Frankfurt 2001
[3] Vgl.: https://www.cvce.eu/de/obj/das_manifest_von_ventotene_1941-de-316aa96c-e7ff-4b9e-b43a-958e96afbecc.html
[4] Jean Marc Ferry, La Question de l’état Européen, PuF,  Paris 2000
[5] Hauke Ritz und Ulrike Guérot
[6] Bruno Amable, Le Blog Bourgeois

Leser haben Ein Kommentar hinterlassen.

  • Hanna hat kommentiert am

    Hui dass ist ja viel Input. Ich picke mal raus, dass Elsass und Krim keinesfalls verglichen werden kann. Und dass meine Kinder und ich sehr wohl von einem gemeinsamen Europa und der EU profitieren. Und wie schon öfter angemerkt, wir selbstständig denken können. Auf jeden Fall stimme ich zu, dass die Souveränität vom Volk ausgeht und hoffe auf eine große Beteiligung bei den anstehenden Wahlen.

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