Der 80- Jahrestag des Endes der Hunger-Blockade Leningrads

30. Januar 2024 | Veröffentlicht von D-B / ws, Ein Kommentar

Die Freie Linke Aachen organisiert dazu eine Gedenkfeier

Der 27.Januar ist in Deutschland der „offizielle“ Holocaust-Gedenktag, er ist aber auch der Tag, an dem 1944 der Belagerungsring der deutschen Wehrmacht um Leningrad durch die Rote Armee gesprengt wurde. Damit endete damals eine entsetzliche Zeit für die überlebenden Menschen in der geschundenen Stadt.

Dieser von Deutschland betriebene Genozid mit 800.000 bis 1,2 Mio russischen Verhungerten war für die Freie Linke Aachen der Anlass, sich zu einer kleinen Feier zu treffen und gemeinsam der damaligen Zeit zu gedenken.

Die FL-AC kritisierte dabei, dass dieser Genozid in den öffentlichen Medien immer noch sehr, sehr ‚klein‘ gehalten wird. Bei der Feier wurden dann aber auch einige Parallelen zur aktuellen Situation in Gaza gezogen!
Im folgenden veröffentlichen wir den Text einer Genossin, den sie für diesen Abend vorbereitet hatte…

27. Januar 1944 – 80. Jahrestag des Endes der Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht:
Daniil Granins „Blockadebuch“ und „Stimmen aus einer belagerten Stadt“ (ARD/ARTE)
– ein Vergleich –

Im Zuge des opferreichen Sieges der Roten Armee über die faschistische deutsche Wehrmacht wurde am 27. Januar 1944 Leningrad von der 900 Tage währenden Belagerung der Deutschen befreit.

Während noch zum 70-jährigen Gedenken an diesen Tag, der zugleich bekanntlich als Holocaust-Gedenktag vom deutschen Bundestag in einer Feierstunde begangen wird, der 95-jährige Schriftsteller Daniil Granin dort über das Leiden und Sterben der Menschen seiner Heimatstadt berichten durfte, nicht zuletzt, um gewissermaßen in letzter Minute das – bis dato vergessene – Kapitel deutscher Kriegsverbrechen im 2. Weltkrieg einzubringen, gehören nun wieder russophobe „Narrative“ zum „mainstream“, die an die 60er Jahre, also die stramme post-Nazi CDU-Ära erinnern. Diese leugneten die Befreiungsleistung der UdSSR im 2. Weltkrieg, erkannten – verkappt – die Oder-Neiße-Grenze nicht an, verfolgten Kommunisten, diffamierten die DDR und verharmlosten den Holocaust. Die folgenden 20 Jahre der Aussöhnung und Annäherung an den sowjetischen Block reichten jedoch nicht aus, um das „Feindbild“ Russland, dem unbesiegbaren Nachbarn im Osten, grundlegend zu entschärfen oder gar zu überwinden. Zu stark hat sich das „Deutschland, Deutschland, über alles“- Ressentiment bei den Deutschen eingebrannt, rassistische Vorurteile gegen den slawischen Nachbarn sind weiterhin vorhanden, und das Narrativ einer „Bedrohung aus dem Osten“ wirkt ungebrochen wie ein Mantra.

So haben es auch „aufgeklärte“ Fernsehsender wie ARD/ARTE in ihrer Sendung am 16. Januar 2024 („Stimmen aus einer belagerten Stadt“) leicht, wohlfeile (vermeintliche) Zusammenhänge aus Zarismus, Stalinismus und Putinismus herzustellen und sich nicht zu entblöden, die über 1000-jährige Geschichte Russlands mit den Formeln: Imperialismus, Autokratismus und Diktatur, abzuwickeln.

Wie spürbar einfach war es da doch für die ARTE-AutorInnen, sich diesem fast 3-jährigen Martyrium einer Stadt mit wenigen ZeitzeugInnen (mehrheitlich „DissidentInnen“) zu nähern – war die Antwort auf die (auch moralische) Frage: Wie konnte man unter diesen extrem inhumanen Bedingungen überhaupt überleben? – doch schon vorgegeben: Man überlebte, trotz der Unfähigkeit der kommunistischen Obrigkeit, mit mehr Glück als Verstand. D.h. sie überlebten nur zufällig, weil Menschen so gestrickt sind, dass sie überleben wollen – so sollte der Zuschauer wohl nach dieser „Dokumentation“ schlussfolgern.

In seiner wunderbaren Dokumentation („Bockadebuch. Leningrad 1941-1944“) interviewt Daniil Granin zusammen mit Ales Adamovitch mehrere 100 Tagebuch-AutorInnen der Blockadezeit. Ihre Berichte werden in anrührender Weise in diesem Buch zusammengefasst, ihr Mitgefühl, ihr Interesse am Schicksal dieser schreibenden Menschen wird deutlich spürbar.

Dagegen sprüht die ARTE-Dokumentation Kälte und Missachtung aus – einmal abgesehen von den unzumutbaren Falschdarstellungen und Halbwahrheiten. Hier entmenschlicht nicht die menschenverachtende Blockade der Deutschen Wehrmacht die Leningrader Bevölkerung, sondern die eigene kommunistische Verwaltung mittels Bespitzelungen und Organisationsunfähigkeit. Die Menschen befolgten willenlos deren Anweisungen – sie überlebten wie gesagt: zufällig.

Daniil Granin betont, dass es ihm wichtig gewesen sei, über den Krieg/die Blockade zu schreiben, weil alle diese Menschen starben, „ohne zu wissen, ob wir unser Land verteidigen werden können, ob Leningrad durchhält. Es ist, als ob ich ihnen berichten will, dass wir schließlich gesiegt haben und sie ihr Leben nicht umsonst ließen. Das war der heilige Raum, wo der Mensch begreift, dass letzten Endes nie Gewalt, sondern stets die Gerechtigkeit triumphiert.“ (Rede Granin, BT 2014)

Der Regisseur des ARTE-Films, Artem Demenek, hatte nicht die Absicht, die Menschen Leningrads in ihrer heldenhaften Widerstandsleistung zu würdigen – im Gegenteil, er wollte sie entwürdigen. Unmöglich, dass sie für ein kommunistisches Regime solche Opfer bringen würden! Da müssen sie schon willenlose Befehlsempfänger sein! So schreiben jedenfalls die Handvoll schlauen Tagebuch-AutorInnen in seinem Film, sie blicken eher verächtlich auf die mühevollen Mobilisierungs- und Widerstandsleistungen des Leningrader Volkes, inklusive ihrer Funktionäre.

Durch die Empathielosigkeit des Regisseurs, mit der er das Überleben der Menschen – aus dem Sprachrohr der TagebuchschreiberInnen – beschreibt, vollzieht sich unbemerkt eine Entwertung des gesamten Widerstandes der Leningrader. So wird ein „Narrativ“ geschaffen, das das eigentliche verbrecherische Projekt der deutschen Wehrmacht, die Aushungerung der gesamten Stadt von 2,3 Mio. Einwohnern, ausblendet. Ein Zuschauer, der nicht das Glück hatte, über die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion umfänglich informiert zu sein, kommt zu dem Schluss: Wenn die Leningrader einer so unfähigen Führung glaubten, dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie mit 1,2 Mio. Hungertoten nur knapp überlebten. Noch weiter gefolgert, könnte dies auch heißen: Vielleicht war´s ja auch ein Fehler der Führung, sich dieser starken deutschen Übermacht nicht zu ergeben? Mehr hätten vielleicht überlebt?

Wie aber kann man annehmen, dass ein Volk, eine Einwohnerschaft, ungerechte Behandlung, Unterdrückung, Diskriminierung, Aushungerung widerstandslos akzeptiert?

Daniil Granin sagt: „Die Gerechtigkeit triumphiert!“ Die unterdrückten Völker überleben, weil sie die Kraft spüren, dass sie für eine gerechte Sache kämpfen. Die solidarischen Menschen der Welt unterstützen sie in diesem Kampf, weil die meisten wissen, wie wichtig er ist für Selbstachtung, Emanzipation und: Frieden für ALLE!

Nachtrag:

Der am 27. 1. lobenswerterweise in der AZ erschienene Artikel zum Thema ist erstaunlich objektiv gehalten. Dass er in diesen russophoben Zeiten überhaupt erschienen ist, könnte vielleicht damit zusammenhängen, dass sich ein paar ganz schlaue AZ-LeserInnen fragen, ob nicht gerade eine ähnliche Belagerung vor unseren Augen vor sich geht. Sollte man so lange über das genozidale Belagerungsprojekt Leningrads in der deutschen Öffentlichkeit geschwiegen haben und diesen Fehler nun den Palästinensern gegenüber wiederholen?

Doch die erwartete Einschränkung des Gedenkens folgt auf den Fuß:

Zugleich aber wird das Gedenken in diesem Jahr erneut überschattet vom Angriffskrieg, den Russland seit mittlerweile fast zwei Jahren gegen das Nachbarland Ukraine führt. Denn ein Kernthema der russischen Propaganda ist es, die ukrainische Staatsführung als angebliche „Neonazis“ zu brandmarken und damit in eine Tradition mit den deutschen Faschisten zu stellen. (AZ, 27.1.2024, S. 2)

Das ganze Gedenken sei doch problematisch, WEIL da ja der „russische Angriffskrieg auf die Ukraine“ ist. Wir erinnern uns also nur an Kriegsverbrechen, wenn die angegriffenen Nationen niemals auf die Idee kommen, selbst Kriege zu führen? Werden wir durch den Krieg der Russen auf wundersame Weise entschuldet? Aber so weit geht die Autorin nicht. Dennoch erfolgt ein etwas eiernder „Kausalzusammenhang“: Russland bezichtigt die ukrainische Führung einer faschistischen Politik, womit sie den deutschen Faschisten gleichgestellt würden, was es ja evtl. berechtigen würde, sich genauso wie gegen die Deutschen zu wehren. Da dies nicht sein kann, ist die ukrainische Regierung nicht faschistisch und der Angriff Russlands unberechtigt – womit die Welt wieder in Ordnung ist: Russland ist der Aggressor! Gedenken hin oder her!

gez. D-B

Anmerkungen

die links zu den Berichten und Filem folgen noch …

Leser haben Ein Kommentar hinterlassen.

  • Zum Gedenken an die Leningrader Blockade UND die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 möchte ich auf zwei bemerkenswerte Arikel hinweisen:

    https://freeassange.rtde.live/inland/194149-ganze-welt-fieberte-fuer-befreiung-dutzende-berliner-gedenken-leningrader-blockade/

    Wladislaw Sankin – Mehrere Dutzend Berliner haben sich am 80. Jahrestag (27. Januar 2024) des Endes der Leningrader Blockade im Treptower Park am Fuße der Befreier-Statue zu einer Gedenkzeremonie mit Gedenkreden zum Genozid am Sowjetvolk. Die Leningrader Blockade dauerte 872 Tage, vom 8.09.1941 bis zum 27.01.1944. Sie gilt als schrecklichste Belagerung einer Stadt in der gesamten Menschheitsgeschichte. Mehr als eine Mio. Menschen fielen Beschuss, Bombardierungen und vor allem Hunger und Kälte zum Opfer. Das Aushungern der Stadt war entgegen der gängigen Geschichtsnarrative keine Kriegshandlung, sondern Bestandteil der noch vor Beginn des Angriffs auf die UdSSR beschlossenen genozidalen Hungerpolitik des Hitlerfaschismus auf dem Gebiet der Sowjetunion.(…)

    https://freeassange.rtde.live/meinung/193916-auschwitz-und-leningrad-gehoeren-untrennbar-zusammen/

    Auschwitz und Leningrad gehören untrennbar zusammen – 26. Januar 2024 – Anton Gentzen
    „Jedes Jahr am 27. Januar, Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945, veröffentlichen Politiker Bilder von sich, auf denen sie an Auschwitz erinnernde Schilder mit klugen Sprüchen hochhalten. Daran, dass genau ein Jahr VOR Auschwitz eine große Stadt befreit wurde, in der eine Mio. Menschen durch dieselben Täter starben, erinnern diese Politiker nicht, denn an Leningrad und seine Toten zu erinnern, gehört nicht zur jährlichen Nomenklatur der Politikerrituale und gilt offenbar selbst unter Abgeordneten der Linken als nicht woke und als „politisch nicht opportun“(…)

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